Der Anruf kam im Februar 1975 an einem Tag, den Dr. Wolfgang Thiele nicht vergessen sollte. Der junge Physiker, der vier Jahre zuvor die Soptim Ingenieurbüro GmbH gegründet hatte, band sich gerade die Krawatte für sein Rigorosum, als das Telefon klingelte. Der Oberingenieur des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE) bat um Unterstützung bei der Kraftwerkseinsatzplanung. Der Auftrag markierte den Beginn der langjährigen Zusammenarbeit. Bald danach verlagerte sich der Schwerpunkt der Soptim darauf, die Systemführung in Brauweiler dabei zu unterstützen, das eigene 11 000 km lange Übertragungsnetz sicher, zuverlässig und effizient zu führen.
Niemand ahnte damals, dass diese Zusammenarbeit mehr als fünf Jahrzehnte überdauern würde – Jahrzehnte voller Herausforderungen: Neben ständigen technologischen Neuerungen erfolgte die Liberalisierung der Energiemärkte und damit die unternehmerische Eigenständigkeit der Netzgesellschaften, woraus schließlich die Amprion GmbH hervorging. Es entwickelten sich zunehmend dynamische Energiemärkte, in denen Händler auf einen diskriminierungsfreien Zugang zum Übertragungsnetz vertrauen können. Auch die Netzbetreiber selbst konnten nun von der Liberalisierung profitieren – beispielsweise durch die Schaffung eines deutschlandweiten Regelreservemarktes.
Gleichzeitig wurden auch die Abstimmungsprozesse der europäischen Übertragungsnetzbetreiber immer komplexer. Amprion als »Coordination Centre North« im europäischen Verbundnetz übernahm in diesem Kontext eine führende Rolle bei der Gestaltung der Verfahren und IT-Systeme. Neben dem Ermöglichen der Strommärkte unter Wahrung der Systemsicherheit ist in den vergangenen Jahren der Umbau zu einem klimaneutralen Energiesystem als große Herausforderung dazugekommen.
Heute, ein halbes Jahrhundert später, arbeiten Soptim und die Amprion GmbH immer noch eng zusammen – an stets neuen Herausforderungen.
Von Lochkarten zu Echtzeitsystemen
Die Entwicklung der Partnerschaft verlief Schritt für Schritt: Zunächst stand die Kraftwerkseinsatzplanung im Mittelpunkt, gefolgt vom Management der Netz- und Kraftwerksdaten. Danach ergab sich der Einstieg in die Leittechnik und zunehmend folgten Anwendungen im Energiemarkt.
Neben den Aufgaben änderten sich auch die technischen Hilfsmittel. Von 1975 bis 1979 verfügte die Soptim als Softwarehaus tatsächlich über keine eigenen Rechner. Die Programme – auf Lochkarten gespeichert – liefen direkt auf den Systemen der RWE-Hauptschaltleitung in Brauweiler. Erst 1980 wurden anlässlich eines Auftrags für die Gruppenschaltleitungen eigene Rechner angeschafft.
Von konventioneller Erzeugung zu Klimaneutralität
Der Weg von einem Energiesystem mit fast ausschließlich konventioneller Erzeugung aus verbrauchsnah platzierten großen Kraftwerken zu einer klimaneutralen Struktur mit einer Vielzahl dezentraler Erzeugungsanlagen stellt weiterhin hohe Anforderungen an die Übertragungsnetzbetreiber und deren Dienstleister. Neben technischer Expertise war und ist die Koordination zahlreicher Akteure entscheidend. Christoph Speckamp, Vorstand der Soptim AG, erklärt: »Eine Vielzahl von Akteuren, vom Übertragungsnetzbetreiber über Verteilnetzbetreiber bis hin zu Anlagenbetreibern und Energiehändlern, muss in Projekten koordiniert werden. Früher reichten noch Telefonate und einfache Planungsinstrumente. Heute unterstützen wir mit unseren datengetriebenen Systemen die Betriebsplanungs- und Handelsprozesse sowie die Echtzeit-Systemführung.«
Ein innovatives Thema, das beide Partner in diesem Kontext derzeit beschäftigt, ist die kurative Systemführung. Bislang führen die Übertragungsnetzbetreiber Redispatch-Maßnahmen ausschließlich präventiv durch. Prognostizieren sie einen Netzengpass, so treffen sie im Vorhinein Maßnahmen, um die (n–1)-Sicherheit zu gewährleisten. Die vorsorglichen Maßnahmen erweisen sich im Nachhinein jedoch nicht immer als notwendig. Eine Maßnahme, die dagegen nur dann zum Einsatz kommt, wenn sie wirklich benötigt wird, verspricht Kosteneinsparungen. Daher testet Amprion gemeinsam mit der Tennet TSO GmbH und mit Soptim als Implementierungspartner den Einsatz kurativer Maßnahmen im Rahmen des Pilotprojektes »Kupilot – Kurative Pilotierung eines Redispatches für die Übertragungsnetzregion Emsland«. Zwar identifizieren die Netzbetreiber auch beim kurativen Redispatch im Vorhinein potenzielle Netzengpässe, im Gegensatz zum rein präventiven Netzengpassmanagement beheben sie diese jedoch nicht vollständig ex ante. Stattdessen bereiten sie entsprechende Maßnahmen nur vor. Auf diese Weise können sie das bestehende Netz höher auslasten. Erst wenn tatsächlich ein Betriebsmittel ausfällt, kommen die vorbereiteten Mittel zum Einsatz.
»Im Sinne einer effizienten Leistungserbringung ist unser Anspruch, die Netzinfrastruktur bestmöglich zu nutzen, ohne dabei die Sicherheit zu gefährden. Mit dem kurativen Redispatch gewinnen wir ein wertvolles Werkzeug für die Systemführung, das jedoch im Bedarfsfall unbedingt verlässlich funktionieren muss«, erklärt Frank Reyer, Leiter der Systemführung der Amprion GmbH, und ergänzt: »Neben den sorgfältigen Tests im Pilotprojekt vertrauen wir bei der IT-technischen Umsetzung auf Soptim, um diese Lösung zu erproben und operativ nutzbar zu machen.«
Vom Rheinland nach Europa
Amprion und Soptim haben ihre Partnerschaft längst über die deutschen Grenzen hinausgetragen. Julia Watzlawik, Leiterin Anwendungen Energiemarkt und Systemdienstleistungen, Amprion GmbH: »Mit der seit Jahren produktiven Entso-E Verification Platform, die zur Abstimmung der europäischen Übertragungsnetzbetreiber dient, haben wir bewiesen, wie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit einem kompetenten Dienstleister wie der Soptim erfolgreich gelingt.« Speckamp ergänzt: »Neben unseren Aktivitäten im Kontext der Leittechnik werden uns der grenzüberschreitende Stromhandel, die Betriebsplanungsprozesse im europäischen Verbundnetz und die Umsetzung der System Operation Guideline (SO GL) der EU auch künftig begleiten.
Meilensteine eines halben Jahrhunderts
Vor 50 Jahren war das Ziel des ersten Auftrages klar: die sichere Systemführung eines großräumigen Übertragungsnetzes mit fast ausschließlich konventioneller und nuklearer Erzeugung.
Heute ist daraus eine vielfältige Systemlandschaft entstanden: Neben dem Leitsystem einschließlich der Prozessankopplung und dem Prognosemanagement liefert Soptim unter anderem Lösungen für das Fahrplanmanagement, den Handel, die Freischaltplanung oder das Management des aus regelungstechnischen Gründen unvermeidlichen ungewollten Austausches von Energiemengen in Europa. Darunter sind auch Systeme, die alle vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber gemeinsam nutzen, beispielsweise zum automatisierten Abruf von Minutenreserveleistung, der seit 2012 einen wichtigen Beitrag zum gemeinsamen Regelenergiemarkt leistet.
Darüber hinaus haben sich Amprion und Soptim in die Netzbetreiberkooperation connect+ eingebracht und stellen mit der Lösung RAIDA allen Marktteilnehmern eine Plattform für den Austausch von Stamm- und Planungsdaten im Redispatch 2.0 zur Verfügung.
»Insbesondere die dynamischen Rahmenbedingungen und der hohe Zeitdruck für die Einführung der Redispatch-2.0-Datenaustauschplattform waren eine besondere Herausforderung, die wir gemeinsam mit Soptim exzellent bewältigt haben«, berichtet Reyer.
Erfolgsfaktoren: Fokus und Flexibilität
Ein Grundsatz eint alle Projekte über die Jahre hinweg: Lösungen müssen wachsen können – denn technische und regulatorische Vorgaben ändern sich, Netze werden komplexer und die Zahl der Akteure steigt. Der deutsche Übertragungsnetzbetreiber und das Aachener Softwarehaus haben sich daher der Flexibilität verpflichtet. Diese bezieht sich neben der Organisation, den Prozessen und der Haltung vor allem auch auf die IT-Lösungen. Dr. Wolfgang Thiele, Vorstand der Soptim AG: »Wir schaffen Lösungen, die mitwachsen und sich flexibel anpassen lassen. Es reicht nicht, die Software fertigzustellen. Sie muss auch in fünf bis zehn Jahren und gegebenenfalls darüber hinaus Evolution erlauben, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern.«
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist schnell benannt: der Fokus auf die gemeinsame Aufgabe und die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Direkte Kommunikationswege prägen die Partnerschaft gestern wie heute. Andreas Walczuch, Leiter Prozessleitsysteme, Amprion GmbH: »Wir haben immer einen direkten Draht, auch und gerade, wenn es brennt. Aufgrund des jahrzehntelang gewachsenen Vertrauens verlassen wir uns in jeder Situation aufeinander.«
Speckamp erläutert weiter: »Unsere Zusammenarbeit ist geprägt von einem pragmatischen Miteinander. Amprion gelingt es, die Projekte effizient und schlank zu administrieren, sodass wir den Fokus voll auf die gemeinsamen Aufgaben legen können. ›Blindleistung‹ kennen wir in der Zusammenarbeit mit Amprion daher nur als elektrotechnische Kenngröße.«
Der allgemeinen Tendenz, dass IT-Projekte durch Governance-Vorgaben ineffizient werden, wirken Amprion und Soptim mit ihrem Selbstverständnis erfolgreich entgegen. Georg van de Braak, Leiter Hosting & Anwendungen, Amprion GmbH: »Wenn wir unsere Ziele erreichen und unserer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen wollen, müssen wir nicht nur die Netze selbst, sondern auch unsere IT-Systeme effizient und zeitnah ausbauen. Soptim hat sich dabei immer als verlässlicher Partner erwiesen.«
Diese Balance aus bewährter Partnerschaft und notwendiger Anpassungsfähigkeit ist das Erfolgsgeheimnis dieser Kooperation, die mit einem spontanen Anruf im Februar 1975 begann und heute zur sicheren Stromversorgung in Europa beiträgt. Soptim-Gründer Dr. Wolfgang Thiele erinnert sich: »Mit einem mündlich erteilten Auftrag in der Tasche ins Rigorosum zu gehen, fühlte sich an, wie auf Wolke sieben zu schweben.« Aus diesem Moment entstand in über fünf Jahrzehnten eine verlässliche, zukunftsorientierte Partnerschaft – getragen von stetiger Erneuerung und Vertrauen. Oder wie Speckamp es treffend sagt: »Mit Ambition und Freude teilen wir mit Amprion das Streben nach Exzellenz und sorgen gemeinsam weiterhin dafür, dass die Lichter immer leuchten.«
von Uwe Taeger, Fachjournalist, Ulm
veröffentlicht in: ew – Magazin für die Energiewirtschaft, 09/2025